LMU, Institut für Komparatistik
Dozent: Sebastian Donat
Proseminar II (A): Metrik
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Referat vom 17.12.01
Referent: Oleh Kotsyuba
Thema: Metrische Fachbegriffe 9: Freie Verse |
Freie Verse
Der Begriff Freie Verse wird sehr unterschiedlich verwendet. Nachfolgend werden verschiedene Bestimmungsmöglichkeiten aufgelistet.
- Freie Verse sind gereimte, metrisch gebaute (hauptsächlich jambisch und trochäisch) Verse verschiedener Länge, die in beliebiger Mischung, freier Reimordnung und mit oder ohne strophische Gliederung gereiht werden (Aus: Metzler, 155).
- Freie Verse fanden zuerst Verwendung im it. Madrigal (sog. Madrigalverse), danach auch in anderen mit Musik verbundenen lit. Formen (Oper, Singspiel, Kantate). Im 17. Jh. wurden sie sehr beliebt in der franz. Lyrik, Komödie (Molière) und Fabeldichtung (La Fontaine). Daher auch die andere Bezeichnung vers libres, oder mêlés, oder irréguliers.
- Im 18. Jh. finden sie in dt. Fabeln (Ch. F. Gellert), Lehrgedichten (B. H. Brockes, A. v. Haller) und Verserzählungen (Ch. M Wieland) Verwendung.
- Später wurde auch das feste regelmäßige Versmaß aufgegeben (z.B. bei fr. A. Rimbaud, J. Laforgue und dt. F. Werfel, E. Stadler), so dass sich diese freien Verse nur noch durch den Reim von den freien Rhythmen unterscheiden (Aus: Metzler, 155).
Die Letzteren haben keine feste Strophenform, keine feste Hebungszahl der einzelnen Verse und innerhalb der einzelnen Verse keine regelmäßige Ordnung von Hebung und Senkung. Der Verscharakter liegt in der eigenwilligen rhythmischen Stilisierung, in der teils einmal geprägte rhythmische Motive anklingen können (Aus: Paul/Glier, 168).
- Freie Verse sind Versgebilde, deren rhythmische Reihen freie ... Taktzahl haben. Die Länge der Reihe ist also nicht mehr durch einen metrischen Rahmen vorbestimmt. Alle Verse haben jedoch eine strenge Taktgliederung mit meist starrer Füllung (In: Arndt, 180). Der Unterschied zu den freien Rhythmen liegt auch im Ursprung der freien Verse sie stammen vom it. Madrigal ab. Die freien Rhythmen (die vermutlich als Nachahmung Pindars bzw. jungattischer unstrophischer polyrhythmischer Dithyramben entstanden) sind außerdem nicht so regelmäßig gebaut und kennen keine so streng gebundene Taktfüllung, keinen so regelmäßigen Wechsel von Hebung und Senkung (ebd., 181). Die freien Verse und Madrigalverse fielen in Deutschem in ihrer Erscheinungsform zusammen. Der jambische Madrigalvers heißt allgemein der Faustvers (die Zahl der Hebungen wechselt zwischen 4 und 6).
Übersicht:
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Wechselnde Hebungszahl (tonisches Prinzip) |
Wechselnde Senkungszahl (Akzentprinzip) |
Wechselnde Zahl von Heb. u. Senk. (keine Regulierung) |
gereimt |
Madrigalvers (meist alternierend), Vers Libres, Faustvers |
Knittelvers (4 Hebungen) |
Vers irréguliers (gereimte freie Rhythmen) |
reimlos |
Freie Verse |
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Freie Rhythmen |
(In: Schlawe, 63. Hier wird im Unterschied zu Metzler und Arndt den Freien Versen das Kennzeichen der Reimlosigkeit zugeschrieben.)
Andere Möglichkeiten:
1. In der (post)sowjetischen Literaturtheorie wurde das Problem der Klassifizierung von freien Versen anders gelöst:
Im System des rein tonischen (bzw. nach Buchtab: akzentuierenden) Verses läßt sich unterscheiden zwischen gleichhebigen und ungleichhebigen Vers sowie zwischen gereimtem und ungereimtem Vers. Der reimlose ungleichhebige akzentuierende Vers wird dabei als freier Vers (vers libres) definiert (In: Gasparov 1993, 18; Gasparov 1974, 17).
- In der russ. Tradition wird hauptsächlich nicht zwischen freien Versen und freien Rhythmen unterschieden (die Letzteren gab es nicht)!
- Als Hauptmerkmal, das den freien Vers von der Prosa unterscheidet, bleibt die Einteilung in Verse (Versgliederung, das Erkennen der Versgrenzen). Da der freie Vers alle anderen Unterschiede zur Prosa aufhebt, konzentriert er die Aufmerksamkeit des Lesenden/Schreibenden auf diesen einen einzigen Unterschied. Die relative Stärke syntaktischer Verbindungen bekommt eine besondere Bedeutung im freien Vers: starke syntaktische Verbindungen an den Versgrenzen (d.h. syntaktische und Verspausen fallen nicht zusammen) heben die Unterschiede von der Prosa hervor; die schwachen glätten diese (In: Gasparov 1993, 23-24).
2. Ähnlichlautend wenngleich nicht systematisch, sondern historisch argumentierend (hier allerdings als Weiterentwicklung der Freien Rhythmen verstanden) ist die Begriffsbestimmung der freien Verse bei Christian Wagenknecht. Freie Verse sind in seiner Definition Gedichte ohne Reimbindung und strophische Ordnung sowie auch ohne durchgehendes Versmaß und insofern zunächst den Freien Rhythmen verwandt. Von diesen unterschieden darin, daß sie auch deren Bezugnahme auf Pindars Odendichtung nicht mehr kennen. (In: Wagenknecht, S. 130)
Fazit:
Freie Verse in der Bedeutung, in welcher sie in Deutschland bei Metzler und Arndt verstanden werden, würden in der russischen Tradition ungefähr den gereimten tonischen Versen entsprechen; Freie Rhythmen in der deutschen Tradition entsprechen dann etwa den russ. reimlosen akzentuierenden Versen (allerdings ohne den historischen Bezug auf Pindar oder jungattische Dithyramben).
Die Definitionen verursachen Verwirrung vor allem durch den Reim und Metrum: in Russ. muss ein freier Vers auch frei vom Reim und dem Metrum sein!
Beispiele:
Faustvers:
Was sucht ihr, mächtig und gelind,
Ihr Himmelstöne, mich im Staube?
Klingt dort umher, wo weiche Menschen sind!
Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube;
Goethe, Faust I, Szene Nacht |
Ein Beispiel des freien Verses:
Alle, die vorübergehn,
gehen vorbei,
Sieht mich, weil ich blind bin, keiner
stehn?
Und ich steh' seit Drei.
Kästner, Monolog des Blinden |
Beispiel eines Madrigalverses
(aus einer Kantate von Brockes):
Bey diesem reinen Ton der reizenden Gesänge
Wreckeckeckeckst' und quackt' im feuchten Rohr
Der frohen Frösche heis'rer Chor
Mit knarrendem Geschwätz', in solcher Menge [...]
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(Aus: Albertsen, 80)
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Beispiel eines meist jambischen freien Verses
(Zeilen 6, 10 12 sind jambisch (4-hebig), Z. 5 und 8 sind jambische Vierheber, die anaklastisch beginnen, Z. 2 trochäisch ohne Auftakt):
Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte,
sah so angeknabbert aus.
Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig.
Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell
Fand man ein Nest von jungen Ratten.
Ein kleines Schwesterchen lag tot.
Die anderen lebten von Leber und Niere,
tranken das kalte Blut und hatten
hier eine schöne Jugend verlebt.
Und schön und schnell kam auch ihr Tod:
Man warf sie allesamt ins Wasser.
Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!
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Gottfried Benn, Schöne Jugend, aus dem Zyklus Morgue, 1912
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Beispiel eines russ. freien Verses (ist sogar nicht ganz frei', weil hier ein durchgehendes dreisilbiges Metrum beibehalten wird):
Zametili javlen'je domino
s izobraeniem na èernych
kapjuonach
golovy osla.
I ponjali:
javlenie takoe
est' parodija
uèenogo Pampana,
napisavego, èto principy
mechaniki poleta
vzdor:
bum-bum,
bam-bam!
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Andrej Belyj (Aus: Gasparov 1993, 31)
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Quellenverzeichnis:
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Albertsen, Leif Ludwig. Neuere deutsche Metrik. Frankfurt/M., N.Y., Nancy, Lang 1984
- Arndt, Erwin. Deutsche Verslehre: ein Abriß. Berlin, Volk und Wissen 1990
- Behrmann, Alfed. Einführung in den neueren deutschen Vers. Stuttgart, Metzler 1989
- Gasparov, M. L., Sovremmennyj russkij stich. Metrika i ritmika (Moderner russischer Vers. Metrik und Rhythmik). Moskva, Nauka 1974
- Gasparov, M. L., Skulaèeva, T. V.: Ritm i sintaksis v svobodnom stiche (Rhythmus und Syntax im freien Vers). In: Oèerki istorii jazyka russkoj poëzii XX veka. Grammatièeskije kategorii. Sintaksis teksta. Moskva, Nauka 1993
- Lott, Martin. Poetische Grundbegriffe. Erschließung poetischer Texte. Hamburg, Kovaè, 1996
- Metzler Literatur-Lexikon: Stichwörter zur Weltliteratur. Stuttgart, Metzler 1984
- Paul, Otto; Glier, Ingeborg. Deutsche Metrik. München, Max Huber Verlag 1961
- Schlawe, Fritz. Neudeutsche Metrik. Stuttgart, Metzler 1972
- Wagenknecht, Christian. Deutsche Metrik: eine historische Einführung. München, Beck 1981
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